Interview zum Thema Hochsensibilität

Im Rahmen einer Maturarbeit wurde ich von einer Kantonsschülerin zum Thema Hochsensibilität befragt. Gerne stelle ich Ihnen die Fragen und Antworten zur Verfügung.

 

Wieso haben Sie sich auf Hochsensibilität spezialisiert?

 

Ausschlaggebend waren für mich vor allem zwei Faktoren: Erstens habe ich bei meiner therapeutischen Tätigkeit festgestellt, dass mir die Beratung und Behandlung von sensibleren Menschen liegt und mir meine eigene Hochsensibilität (HS) hilft, mich in den Erfahrungshintergrund dieser Menschen einzufühlen. Zudem empfinde ich die Arbeit mit hochsensiblen PatientInnen als sehr befriedigend, da diese in der Regel sehr motiviert sind, an sich zu arbeiten, eine hohe Selbstreflexions- und Introspektionsfähigkeit mitbringen und therapeutische Erkenntnisse rasch umsetzen können, wenn sie sich vom Therapeuten gesehen, gehört und verstanden fühlen.

Zweitens wurde mir im Rahmen eigener Therapieerfahrungen bewusst, dass „klassische psychotherapeutische Behandlungen“ oft zu kurz greifen, wenn sie die Möglichkeit einer vorliegenden HS nicht mit einbeziehen, da meiner Ansicht nach hochsensible Menschen andere Bedürfnisse mitbringen in eine Therapie und von anderen Vorgehensweisen profitieren.

 

Was finden Sie interessant an Hochsensibilität?

 

Mir gefällt, dass dieser Begriff verschiedenartige Erlebens- und Wahrnehmungsweisen von Menschen benennt, ohne diese zu pathologisieren. Der englische Begriff „sensory processing sensitivity“ gefällt mir noch etwas besser, da er mir noch etwas neutraler erscheint.

 

Welches Ziel verfolgen Sie bei Ihrer Arbeit mit Hochsensiblen?

 

Mir ist es als Therapeut sehr wichtig, dem (hochsensiblen) Erleben meiner PatientInnen mit Interesse zu begegnen und dieses zu „normalisieren“, d.h. die Botschaft zu vermitteln, dass diese Erlebensweisen Teil eines ganz normalen menschlichen Erlebensspektrums sind und sogar auch Fähigkeiten und Ressourcen beinhalten können. Wenn dies gelingt, ist ein grosser Teil der therapeutischen Arbeit schon getan. Danach geht es vor allem darum, herauszufinden, welche Ziele eine Person selber mit Hilfe der therapeutischen Unterstützung erreichen möchte.

 

Was ist die Definition von Hochsensibilität?

 

Für mich hat sich die DOES-Definition von Elaine Aron bewährt: Tiefere Verarbeitung, Tendenz zur Überreizung, Emotionale Reaktivität und subtile Wahrnehmung. Ergänzend dazu finde ich auch die Definition von Brigitte Küster passend, welche noch die schmalere Komfortzone und das längere Nachhallen von Erleben miteinbezieht.

 

Was sind die Ursachen für diese?

 

 

Gemäss Elaine Aron ist Hochsensibilität eine biologisch veranlagte, grundsätzlich höhere Aufnahme- und Verarbeitungsbereitschaft des neuronalen System, von welcher etwa 15-20% aller Menschen und höheren Säugetiere betroffen sind. Es geistern im Internet auch Theorien herum, dass HS immer die Folge von frühkindlichen Traumatisierungen ist. Das ist meiner Meinung und meines Wissens nach nicht nur falsch, sondern sogar auch gefährlich, da mit dieser Erklärung HS pathologisiert wird. Hochsensible Menschen sind vermutlich anfälliger für Traumatisierungen und traumatische Erfahrungen können sich in Form von Symptomen äussern, die mit HS-Eigenschaften verwechselt werden können. Daneben gibt es aber auch klare Unterschiede und Unterscheidungsmöglichkeiten der beiden Phänomene.

Eine Zusammenstellung der Unterscheidungsmöglichkeiten finden Sie auf dieser Webseite.

 

Ist es global oder nur in unserer Gesellschaft?

 

Gemäss E. Aron ist diese Veranlagung universell und lässt sich bei den meisten höher entwickelten Säugetieren nachweisen. 

 

Warum kommt es bei Hochsensiblen eher zu einem Burnout/einer Depression/etc.?

 

Dies lässt ich biologisch mit dem hoch reaktiven Nervensystem erklären (die biologische Stressreaktion wird schneller ausgelöst und benötigt länger, um sich zu beruhigen) und psychologisch mit dem offeneren Filtersystem, welches bei viel und intensivem Input leichter zu einer Überlastung führen kann. Auch besitzen viele Hochsensible neben der Tendenz zur Überreizung einen starken Drang nach neuem Input und Weiterentwicklung, was es schwer machen kann, innerhalb der eigenen Komfortzone zu bleiben und leicht zu Selbstüberforderung führen kann. Ein sehr sorgfältiger und achtsamer Umgang mit den eigenen Grenzen, die täglich wieder anders sein können, spielt dabei eine wichtige Rolle. Viele Hochsensible haben einen solchen Umgang nie gelernt. Daneben gibt es wahrscheinlich auch noch andere Faktoren, die dazu beitragen: Viele Hochsensible sind sehr pflichtbewusst und gewissenhaft, haben hohe Standards und Ideale bis hin zu Perfektionismus und neigen auch dazu, vor allem wenn eine hohe Empathiefähigkeit vorliegt, sich stark nach aussen zu orientieren und die eigenen Bedürfnisse zu vernächlässigen oder sogar zu vergessen.

 

Ist der Begriff „Hochsensibilität“ wissenschaftlich anerkannt?

 

In meinem Psychologiestudium (2002 bis 2007) war das Konzept noch kein Thema. Mittlerweile gibt es etwas mehr Forschung in dem Gebiet. Elaine Aron befasst sich weiterhin damit, daneben gibt es auch eine Forschergruppe um Pluess und Belsky in London, die sich v.a. Mit HS bei Kindern befasst. In der Schweiz beschäftigt sich der Ökonom Patrice Wyrsch mit HS im ökonomischen bzw. Unternehmenskontext.

 

Wie erkennt man, dass jemand hochsensibel ist?

 

Es gibt bis heute keine wissenschaftlich überprüften, allgemeingültigen Messinstrumente für Hochsensibilität, auch bedingt dadurch, dass HS keine Diagnose ist, sondern mehr eine Bezeichnung für eine Persönlichkeitseigenschaft, die bei Menschen neben anderen mehr oder weniger stark ausgeprägt vorliegen kann. Elaine Aron hat einen Fragebogen entwickelt, den ich hilfreich finde, um ins Gespräch zu kommen. Wenn Menschen von sich aus auf das Thema kommen und sich damit beschäftigen, ist das oft ein Zeichen für eine HS. Zu den Fragen von Elaine Aron auf meiner Webseite.  Einen weiteren, etwas ausführlicheren Test hat der deutsche Psychologe Guido F. Gebauer entwickelt. Hier finden Sie diesen. 

 

Sollte man Hochsensibilität therapieren?

 

Auf keinen Fall, Hochsensibilität ist schliesslich keine Krankheit, sondern es geht darum, hochsensible Menschen darin zu bestärken, einen für sie stimmigen Umgang mit dieser wertvollen Eigenschaft zu finden. Manchmal können psychische oder neurologische Störungen (zb Traumafolgestörungen, ADHS oder Störung aus dem autistischen Spektrum) vordergründig als HS erscheinen oder auch in Kombination mit einer HS auftreten. In diesen Fällen ist eine Unterscheidung wichtig, da Menschen mit diesen Störungen eine adäquate Behandlung erhalten sollten.

 

Was raten Sie als Mediziner / Psychologe Hochsensiblen?

 

Beschäftigen Sie sich mit dem Thema. Lesen Sie Bücher darüber, schauen Sie Filme dazu und suchen Sie den Kontakt und Austausch mit anderen Hochsensiblen. Und vor allem: Hinterfragen Sie die allgemein akzeptierten „Normalitäten“ und entwickeln Sie Ihre eigenen, für Sie passenden Normen.

 

Sind eher Männer oder Frauen betroffen?

 

Gemäss Elaine Aron sind gleich viele Männer wie Frauen hochsensibel.

 

Behandeln Sie mehr Frauen oder Männer?

 

Ich kenne keine Statistiken dazu, vermute aber, dass grundsätzlich mehr Frauen sich in psychotherapeutische Behandlung begeben, einfach, weil in unserer Gesellschaft für Frauen die Hemmschwelle niedriger ist, sich mit persönlichen Themen anderen, auch einer Fachperson, zu öffnen. Bei meinen PatientInnen ist das Geschlechterverhältnis allerdings ziemlich ausgeglichen; ich gehe davon aus, dass sich bei mir mehr Männer melden, weil ich selber ein Mann bin.

 

Was sehen Sie als Gründe, wieso sich weniger Männer bei TherapeutInnen melden?

 

In den meisten westlichen Kulturen existiert nach wie vor die Rollenerwartung, dass Männer stark sein müssen, alleine mit ihren Problemen zurechtkommen sollen und insbesondere auch keine "Mimosen" oder "Weicheier" sein dürfen. Daneben kommt noch dazu, dass Männer einfach auch viel weniger Training und Erfahrung mit der emotionalen Kommunikation haben, obwohl sie dazu nicht weniger in der Lage sind als Frauen.

 

Was sehen Sie als Gründe, wieso es fast keine männlichen Spezialisten gibt?

 

Soziale Berufe werden nach wie vor eher als "weibliche" Berufe betrachtet, was dazu führt, dass sich eher Mädchen und Frauen zu diesen Berufen hingezogen fühlen. Daneben gibt es bislang keine spezialisierten Ausbildungsmöglichkeiten für Hochsensibilität. 

 

Sehen Sie es als Problem, dass es Männern oft nicht bewusst ist, dass sie hochsensibel sind?

 

Sich einer Eigenschaft oder eines Teils seiner selbst nicht bewusst zu sein, ist meiner Meinung nach immer erst dann ein Problem, wenn es für die betroffene Person selber ein Problem ist. Manche Männer / Menschen kommen vielleicht in ihrem Leben sehr gut oder besser klar, wenn sie sich nicht mit ihrer sensiblen Seite beschäftigen. Bei anderen entsteht gerade dadurch grosses Leiden. Ich fände es auf jeden Fall wichtig, dass es im Bereich der HS in unserer westlichen Welt mehr Spielraum und Freiheit geben würde, dass Sensibilität, Empfindsamkeit, Empathie, Emotionalität mehr auch Männern zugestanden wird und so jeder Mann oder Mensch für sich selber entscheiden kann, welchen Platz er dieser Eigenschaft in seinem Leben zuteilen möchte.

 

PSYTSG

Psychotherapie Simon Gautschy

M.Sc. Simon Gautschy

Eidg. anerkannter Psychotherapeut
Fachpsychologe für Psychotherapie FSP

Rathausgasse 17

5000 Aarau

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