Der Urfisch in Ihrem Kopf

Bild eines Urfisches im Urmeer.
Herzlichen Dank an Mark Garrison und Hakai Magazine, dass ich diese wunderschöne Illustration eines Urfisches für diesen Artikel verwenden darf!

Die Polyvagaltheorie von Stephen Porges

 

In diesem Artikel möchte ich Ihnen die Polyvagaltheorie des Amerikaners Stephen Borges vorstellen, weil sie es aus meiner Sicht wunderbar ermöglicht, das körperlich-physiologische Fundament der Psyche zu verstehen, und zu erfahren, wie wir körperliche Voraussetzungen schaffen können, um unser psychisches Wohlbefinden zu verbessern und zu erweitern.

 

Zusammenfassung:

 

Der amerikanische Psychiater und Neurowissenschaftler Stephen Porges entwickelte die Theorie, dass unser autonomes oder vegetatives Nervensystem aus drei grundlegenden neuronalen Energiesubsystemen besteht, welche je nachdem völlig unterschiedliche Verhaltens- und Verarbeitungsweisen aktivieren können.

 

  1. Das jüngste System (verbunden mit dem sogenannten vorderen Parasympathikus), welches Entspannung, Regeneration, Bindungs- und Sozialverhalten ermöglicht und welches aktiviert wird, wenn wir uns in Sicherheit befinden
  2. Das mittlere Kampf- und Fluchtsystem (verbunden mit dem Sympathikus), welches bei Bedrohung aktiviert wird
  3. Das älteste Immobilisationssystem (verbunden mit dem hinteren Parasympathikus) wird aktiviert, wenn die Bedrohungslage als aussichtslos eingeschätzt wird

Einführung.

 

Wussten Sie eigentlich, dass in Ihrem Gehirn ein Urfisch haust, welcher die ganze Zeit Ihre Umgebung überwacht, sich um Ihre Sicherheit sorgt und kümmert, ohne dass Sie dies bewusst wahrnehmen?

 

Das ist natürlich nicht ganz zutreffend, dieses Bild hilft mir aber dabei, mir den Vorgang vorzustellen, den der amerikanische Neurowissenschaftler Stephen Porges in seiner Polyvagaltheorie als Neurozeption bezeichnet: Unser vegetatives oder autonomes Nervensystem, welches für die Regelung der nicht willkürlich steuerbaren Vorgänge in unserem Körper zuständig ist, scannt permanent unsere Umgebung auf Sicherheits- oder Gefahrenreize hin ab und veranlasst unsere körperlichen und psychischen Systeme dazu, mehr oder weniger Energie bereit zu stellen, damit wir entsprechend der Situation reagieren können. Dieser Vorgang läuft unterhalb der Bewusstseinsschwelle ab.

 

Einschub: Zwei der wichtigsten körperlichen Systeme, die auf Ihr psychisches Wohlbefinden einwirken, sind Ihr Nervensystem und Ihr hormonelles System.

 

Wieso sollte Sie das interessieren? Ein paar gute Gründe: Wenn Ihr Urfisch sich sicher fühlt, wirkt sich das einmal auf Ihr körperliches Erleben aus: Sie fühlen sich ruhig und entspannt, ihr Atem wird tiefer, ihr Blutdruck sinkt, ihr Verdauungssystem mit all den daran beteiligten Organen kann optimal arbeiten und Ihr Körper kann sich regenerieren. Im emotionalen Bereich führt dieser körperliche Zustand zudem zu einem Erleben von Wohlbefinden, Ausgeglichenheit, Geborgenheit, Harmonie, Zufriedenheit, Lebensfreude. Und auch der Kopf wird klarer, der Blick wird weiter, Ihr kognitives Potenzial, Ihre innere Weisheit und Kreativität werden abrufbar und die Beziehungen zu sich und anderen werden erfüllender.

 

Die Polyvagaltheorie bietet also ein aus psychotherapeutischer Sicht hochinteressantes Modell, das sich haargenau auf die Schnittstelle zwischen Körper und Psyche bezieht und in der Praxis den Seiltanz auf dieser Schnittstelle ermöglicht - Ihnen dabei hilft, mit Ihrem Urfisch zu kommunizieren sozusagen.

 

Etwas Theorie.

 

Die Bezeichnung „Polyvagal“ bezieht sich auf den Nervus Vagus (Vagusnerv), das zehnte von insgesamt 12 Nervenbündeln, die vom Gehirn aus direkt in den Körper führen und die Kommunikation zwischen bestimmten Gehirnzentren und Körperbereichen ermöglichen. Der Ausdruck „Poly“ weist darauf hin, dass es mehrere Bereiche des Vagusnervs gibt, die für unterschiedliche Aufgaben zuständig sind. Stephen Porges weist auf drei zentrale Bereiche oder Systeme hin.

  1. Der hintere Parasympathikus.
    Der dorsale (hintere) Paraympathikus ist das älteste System, das in der Evolution vor ca. 500 Millionen Jahren bei frühen Fischarten entstand. Man bezeichnet dieses System auch als Immobilisationssystem, welches die „Freeze“-Reaktion (Erstarren) bewirkt. Unseren Vorfahren half dieses System, im Angesicht einer Bedrohung (z.B. eines übermächtigen Raubfisches), den Stoffwechsel innert Kürze komplett auf Sparflamme herunterzufahren, sich tot zu stellen und zu hoffen, dass der Raubfisch kein Interesse an einem toten Fisch hat und vorüberzieht. Der Fokus dieses Systems liegt auf der Konservierung der inneren Organe. Dieses System existiert auch bei uns Menschen weiterhin als absolutes Notsystem und bewirkt, dass wir im Angesicht einer übermächtigen Gefahr körperlich erstarren oder psychisch dissoziieren. Dieses System spielt eine zentrale Rolle bei traumatischen Erfahrungen und der Entstehung von posttraumatischen Störungen.
  2. Der Sympathikus.
    Das sympathische System oder der Sympathikus entstand vor ca. 300 Millionen Jahren mit der Entstehung von Reptilien als zweite Möglichkeit, mit Bedrohung umzugehen: Indem das System eine erhöhte Energiemobilisierung im Körper, insbesondere in den Extremitäten bewirkte, ermöglichte es Kampf- oder Fluchtverhalten. Wenn Sie sich in einer Situation total unwohl fühlen und das Weite suchen möchten, sich innerlich die nächsten Ferien ausmalen, bemerken, wie Sie rot anlaufen, Ihre Hände sich zu Fäusten ballen und intensiver Ärger in Ihnen auftaucht, ist höchstwahrscheinlich dieses System, das „Reptiliengehirn“ gerade aktiv bei Ihnen.
  3. Der vordere Parasympathikus.
    Vor ca. 80 Millionen Jahren entwickelten sich die ersten Säugetiere und mit ihnen ein neues System, das Überlebensvorteile versprach: Das Bindungssystem oder das „Social Engagement System“, wie es Porges nennt. Dieses kann aktiv werden, wenn die beiden anderen Systeme beruhigt sind. Es wird gesteuert durch den vorderen (ventralen) Teil des Parasympathikus. Während die ersten beiden Systeme sich vor allem auf den Schutz der inneren Organe (1. System) und den Einsatz der Extremitäten (Beine zum Flüchten und Hände zum Kämpfen; 2. System) konzentrieren, ist das 3. System verbunden mit Gehirnnerven, welche den Gesichtsausdruck und die Vokalisation steuern. Was natürlich eine wichtige Bedingung dafür ist, dass wir mit anderen Menschen kommunizieren und somit Beziehungen eingehen können. Nur wenn dieses System aktiv ist, können wir uns emotional intelligent verhalten. Dieses System ist das komplexeste und differenzierteste der drei Systeme, allerdings auch das fragilste, das in Bedrohungssituationen am Schnellsten über Bord geworfen und deaktiviert wird.

Vielleicht merken Sie, dass das Bild vom Urfisch zu kurz greift: Eigentlich sitzen ein Urfisch, ein Reptil und ein Säugetier in ihrem Nervensystem und versuchen, sich darüber zu verständigen, wer die Situation am Besten einschätzen kann. Im Zweifelsfall übernehmen die älteren Systeme.

 

Ab in die Praxis I.

 

Was heisst das nun also für Sie beziehungsweise auch für die psychotherapeutische Arbeit? Stellen Sie sich vor, Sie würden in meiner Praxis mir gegenüber sitzen. Wenn ich den Eindruck habe, dass bei Ihnen eines der beiden älteren Systeme aktiv ist, lasse ich Sie ihre körperliche Anspannung auf einer Skala von 0 bis 10 einschätzen. 0 bedeutet maximale Entspannung, 10 maximale Anspannung. Warum? Solange die älteren Systeme aktiv sind, wird das jüngste System (Social Engagement System) gehemmt. Sie sind also gar nicht empfänglich für nonverbale soziale Signale von mir geschweige denn für verbale Botschaften. Ich kann Ihnen die genau passende Lösung für all Ihre Probleme mitteilen, sie werden sie jedoch schlichtweg nicht aufnehmen können.
Vielleicht haben Sie das selber auch schon erlebt im Kontakt mit einem Menschen, der sehr aufgebracht war und bei welchem Sie feststellten, dass alles gute Zureden nicht zu Beruhigung führte? Eltern von Kleinkindern kennen das sehr gut, wenn ihre Kinder einen Gefühlsausbruch erleben und verbal-logisch-rational komplett unzugänglich werden.
Oder sie kennen dieses Phänomen aus Ihrer Partnerschaft.
In dem Fall geht es darum, erst den Urfisch oder das Reptil zu beruhigen. Wie das gehen kann, dazu später.
Erst möchte ich gerne wissen: Wie sieht es gerade bei Ihnen aus? Wo schätzen Sie Ihre Anspannung auf der Skala von 0 bis 10 gerade ein?

Befinden Sie sich im Bereich zwischen 0 und 3, sind ihre älteren beiden Systeme vermutlich gerade beruhigt, Sie befinden sich in einem Zustand von Entspannung und ihr Social Engagement System ist aktiv. In diesem Bereich können Sie sich erholen, regenerieren, kreativ sein, träumen, geniessen, Beziehungen pflegen und entwickeln.

Liegt Ihre Anspannung in einem Bereich zwischen 3 und 5 befinden Sie sich in einer Übergangszone zwischen Entspannung und gleichzeitiger sympathischer Aktivierung. Hier liegt der Bereich, in dem Menschen entspannt aktiv tätig sind, gerne leisten, sich verwirklichen, ihre Fähigkeiten lustvoll weiter entwickeln.

Im Bereich zwischen 5 und 10 ist dann nur noch der Sympathikus aktiv und es geht ums Kämpfen (5 bis 7) oder flüchten (7 bis 10).

Steigt die Anspannung noch weiter, d.h. hat Ihr Nervensystem den Eindruck, dass weder Kämpfen noch Flüchten hilft, weil die Situation aussichtslos erscheint, wird die letzte Überlebensstrategie angewandt in Form des kompletten Abschaltens und Immobilisierens von Körper und Psyche. In dem Bereich finden traumatische Erfahrungen statt: Eine Anforderung übersteigt Ihre Bewältigungsmöglichkeiten und es gibt weder Ausweg noch Hilfe. Interessanterweise scheint dieses System der Immobilisation auch eine wichtige Rolle zu spielen bei intensiven sexuellen oder spirituellen Erfahrungen, allerdings nur, wenn die Aktivierung des Systems bewusst gewollt ist, d.h. wenn jemand sich bewusst dafür entscheidet, die Kontrolle abzugeben.

 

Oftmals kann es schwierig sein, die eigene Anspannung einzuschätzen. Wir Menschen sind komplexe Wesen und bestehen aus unterschiedlichen Teilpersönlichkeiten (siehe hierzu auch meinen Artikel zum System der Inneren Familie). Es kann sein, dass es Anteile gibt, welche sich entspannt und sicher fühlen, gleichzeitig kann es aber auch sein, dass es traumatisierte Anteile gibt, welche mit chronischer Anspannung verbunden sind. Geht die Traumatisierung weit zurück, ist es möglich, dass diese Anspannung gar nicht mehr bewusst wahrgenommen wird. Die Arbeit mit der Anspannungsskala kann dabei helfen, mit solchen Anteilen in Kontakt zu kommen und diese langsam ans Bewusstsein heranzuführen, ohne dass erneut eine bedrohliche Überforderungssituation entsteht, wie zum Zeitpunkt der Traumatisierung.

 

Eine interessante Ergänzung noch hierzu: Übermässig sozial ausgerichtete Menschen müssen nicht zwingend aus ihrem Social Engagement System heraus handeln. Dieses Verhalten kann auch aus einer frühkindlichen Bindungsunsicherheit heraus entstehen. Der erste Reflex von Neugeborenen in Gefahrensituationen ist, die Nähe der Bezugsperson zu suchen. Kann die Bezugsperson nicht feinfühlig genug auf diesen Reflex reagieren, führt das dazu, dass das Kind in der Folge Klammerverhalten entwickelt, d.h. all seine Energie darauf ausrichtet, sichere Beziehungen zu schaffen und dies auch als erwachsene Person weiter tun wird. Dies ist häufig dann der Fall, wenn wir Menschen begegnen, die vordergründig zwar sehr nett und freundlich wirken, der Kontakt aber doch eher anstrengend wirkt. Fachsprachlich wird diese Tendenz „Tend and Befriend“ genannt, auf Deutsch etwa gleichbedeutend wie „Kümmern und Anschliessen“.

 

Und noch eine Ergänzung speziell für hochsensible Menschen: Da hochsensible Menschen über ein hochreaktives vegetatives Nervensystem verfügen, benötigt es weniger, bis das Reptil oder sogar der Urfisch aktiv wird. Für hochsensible Menschen ist es also anspruchsvoller, in die vordere parasympathische Zone, die Entspannungszone zu gelangen und auch darin zu bleiben.

 

Ab in die Praxis II.

 

Falls Sie bei der Anspannungseinschätzung oben feststellen konnten, dass Sie sich bereits im Entspannungsbereich befinden, umso besser und schön für Sie. Falls Sie trotzdem erfahren möchten, wie Sie schnell wieder in diesen Bereich zurückfinden können, wenn Anspannung auftaucht oder wenn Sie sich jetzt im angespannten Zustand befinden, stelle ich Ihnen zwei schöne körpertherapeutische Übungen vor, die Ihnen dabei helfen können, Ihren vorderen Parasympathikus zu aktivieren. Schätzen Sie vor und nach jeder Durchführung Ihre Anspannung auf der Skala von 0 bis 10 ein.

 

1. Grounding

 

Diese Übung stammt ursprünglich aus der Bioenergetik. Sie können sie im Stehen oder im Sitzen durchführen. Wichtig ist, dass Ihre Fusssohlen im Kontakt mit dem Untergrund (Ground) sind. Schliessen Sie Ihre Augen und nehmen Sie den Kontakt der Fusssohlen mit dem Untergrund wahr. Lassen Sie sich Zeit dafür. Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihren Atem beim Einatmen von der Nase her durch den ganzen Körper bis zu den Fusssohlen und aus diesen hinaussströmen lassen. Beim Ausatmen stellen Sie sich vor, der Atem würde aus dem Boden durch Ihre Füsse in den Körper strömen, durch diesen hindurchfliessen und aus der Nase wieder entweichen. Wenn Sie mögen, können Sie sich auch vorstellen, dass Sie beim Einatmen Entspannung durch den Körper fliessen lassen und bei Ausatmen Stärke und Kraft aus dem Boden tanken. Geben Sie dabei so viel Gewicht und Anspannung an den Untergrund ab, wie möglich. Schätzen Sie nach der Durchführung erneut Ihre Anspannung auf der Skala ein.

 

2. Wechselatmung

 

Diese Technik stammt aus dem Bereich der Atemübungen im Yoga (Pranayama) und wird auch von Stephen Porges empfohlen, um den vorderen Parasympathikus zu aktivieren. Finden Sie eine angenehme Sitzposition. Klappen Sie Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand in die Handfläche, sodass Sie Daumen, Ringfinger und kleinen Finger verwenden können, um ein Nasenloch zu verschliessen. Verschliessen Sie mit dem Daumen das rechte Nasenloch und zählen Sie beim Einatmen bis 5. Verschliessen Sie nun mit den beiden anderen Fingern das linke Nasenloch und zählen Sie beim Ausatmen bis 10. Am besten wirkt diese Atemübung mit 10 bis 20 Wiederholungen. Um die Wirkung zu verstärken, können Sie jeweils nach dem Ein- und Ausatmen eine Atempause einbauen, allerdings ist dies erst dann empfehlenswert, wenn Sie schon etwas Übung haben, sonst geraten Sie vielleicht in Atemnot und bekommen noch mehr Stress, statt ruhiger zu werden. Mit Pausen können Sie sich an den Rhythmus 4 – 16 – 8 halten. Zusätzlich zur entspannenden Wirkung profitieren Sie bei dieser Atemtechnik auch noch davon, dass sich Ihre rechte und linke Hirnhälfte besser miteinander synchronisieren.

 

Falls Sie Fragen haben zur Theorie oder zur Praxis, melden Sie sich einfach bei mir. Wie immer freue ich mich auch über Kommentare von Ihnen zu diesem Artikel, die Sie mir weiter unten hinterlassen können. Ansonsten:

 

Vielen Dank für Ihr Interesse und willkommen bei Ihnen!

 

Kümmern Sie sich gut um Ihren Urfisch, Ihr inneres Reptil und Ihr beziehungsfreudiges Säugetier, das ist das Beste, was Sie für sich und Ihre Mitmenschen tun können.

 

Herzlich,

 

Ihr Simon Gautschy

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PSYTSG

Psychotherapie Simon Gautschy

M.Sc. Simon Gautschy

Eidg. anerkannter Psychotherapeut
Fachpsychologe für Psychotherapie FSP

Rathausgasse 17

5000 Aarau

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