Wie konsistent sind Sie heute?

In diesem Artikel möchte ich Ihnen das psychologische Fundament meiner psychotherapeutischen Tätigkeit vorstellen: Die Konsistenztheorie von Klaus Grawe.

 

Zusammenfassung:

  • Die Konsistenztheorie versucht zu erklären, wie die Psyche von Menschen allgemein funktioniert und wie es dazu kommt, dass manche Menschen psychisch gesünder sind als andere.
  • Sie wurde vom deutschen Psychologen und Universitätsprofessor Klaus Grawe entwickelt.
  • Die Grundannahme lautet, dass die Psyche von Menschen aus einem System besteht, welches nach dem Erleben von Konsistenz strebt (Bestand, Zusammenhalt, Geschlossenheit, In-Sich-Ruhen). Konsistenz wird erreicht, wenn die zentralen psychischen Grundbedürfnisse befriedigt werden.
  •  Die wichtigsten Grundbedürfnisse von Menschen sind laut Grawe:
    •  Das Bedürfnis nach Lustbefriedigung und Unlustvermeidung
    •  Das Bedürfnis nach Bindung und Vermeidung von Bindungsverlust
    •  Das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz
    •  Das Bedürfnis nach Kontrolle und Verhinderung von Kontrollverlust
  •  Können die Bedürfnisse über längere Zeit nicht befriedigt werden oder kommt es zu einer Verletzung eines Bedürfnisses, erleben Menschen Inkonsistenz. Dies kann zu psychischen und/oder körperlichen Symptomen oder sogar zu einer psychischen Störung führen.

Klaus Grawe – seine Mission Teil 1

 

Mein Psychologiestudium war sehr von der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Haltung geprägt: Es gibt Diagnosen psychischer Störungen, die wir Menschen vergeben aufgrund von bestimmten Symptomen und für diese Störungen gibt es wissenschaftlich überprüfte Behandlungsmethoden, die wir als Therapeuten anwenden können. Wie es zu diesen Symptomen kommt, wissen wir nicht genau, also befassen wir uns auch nicht weiter damit.

 

Diese Sichtweise war für mich sehr unbefriedigend, da eine meiner Hauptmotivationen für das Psychologiestudium war, herauszufinden, wie die menschliche Psyche eigentlich funktioniert.

 

Ich studierte in Basel, schielte aber mit einem Auge immer wieder nach Bern, wo ein Professor sehr interessante Vorlesungen abhielt. Er hiess Klaus Grawe und an seinen Vorlesungstiteln fiel mir auf, dass er über den gängigen psychotherapeutischen Tellerrand hinauszublicken schien, indem er unterschiedliche psychotherapeutische Ideen und Konzepte verknüpfte sowie Sichtweisen aus fernöstlichen Weisheitslehren mit westlicher Psychotherapie in Verbindung brachte.

 

Klaus Grawe war damals in Psychologenkreisen entweder geliebt oder gehasst. Dies aufgrund seiner gross angelegten Untersuchung von 1994, einer sogenannten Metaanalyse, in welcher er den Stand der Dinge der psychotherapeutischen Wirksamkeitsforschung untersuchte. Sie können sich das etwa so vorstellen: Vor der Untersuchung von Grawe war es so, dass es unterschiedliche Psychotherapierichtungen oder –schulen gab, welche auf mehr oder weniger wissenschaftlicher Basis Behandlungskonzepte entwickelt hatten. Mit wissenschaftlich ist hier gemeint, dass mit Hilfe von wissenschaftlichen Methoden untersucht wird, ob eine Behandlung tatsächlich eine Wirkung erzielt oder nicht. Vielleicht erscheint ihnen das als selbstverständlich, war es zu der Zeit vor Grawes Untersuchung jedoch nicht. Psychotherapie war oftmals eher eine Glaubensfrage: Man „glaubte“, dass eine Methode funktionierte. So trug seine Untersuchung auch den Untertitel: „Von der Konfession zur Profession“. Es ging ihm darum, ein solides wissenschaftliches Fundament zu errichten, auf welchem in Zukunft wirksame Psychotherapie entwickelt und angeboten werden sollte.

Seine Untersuchung bestand nun also darin, dass er sämtliche Studien auswertete, die es bis zu der Zeit gab, in welchen untersucht worden war, welche Bestandteile der unterschiedlichen Psychotherapien in welcher Form wirkten. Die Ergebnisse waren (in Kurzform): Psychotherapie wirkt grundsätzlich. Sogar besser als medizinische Behandlungen im somatischen Bereich. Viele der untersuchten Verfahren erwiesen sich als wirksam. Einige wenig bis gar nicht. Und wieder andere waren nie wirklich wissenschaftlich untersucht worden.

Die Reaktionen reichten von Jubel (jener Richtungen, deren Wirksamkeit eindeutig bestätigt wurde) und Protestgeschrei (jener Richtungen, deren Vorgehensweisen sich als nicht oder wenig wirksam erwiesen bzw. deren Vorgehensweisen nicht untersucht worden waren).

 

Insgesamt war für die Weiterentwicklung der Psychotherapie diese Studie von Grawe von unschätzbarem Wert, da sie in der Folge eine Unmenge von neuen Untersuchungen und die Entwicklung von neuen, innovativen, verbesserten Psychotherapieangeboten angeregt hat.

 

Klaus Grawe – seine Mission Teil 2

 

Klaus Grawe war damit jedoch nicht am Ende seiner Mission angelangt, sondern setzte sich ein neues Ziel. Ausgehend von den Ergebnissen seiner Untersuchung wollte er eine integrative Psychotherapieform entwickeln, die sogenannte „Allgemeine Psychotherapie“, welche schulenübergreifend alle bis dahin wirksamen Behandlungsformen beinhalten und somit wirksamere Behandlungsmöglichkeiten als alle bestehenden Psychotherapieformen bieten sollte. Als wirksamste, unter anderem auch da am besten untersuchte Behandlungsformen zu der Zeit erwiesen sich die kognitiv-verhaltenstherapeutischen Vorgehensweisen, welche auf der Basis der psychologischen Lerntheorie sowie von kognitiven Verarbeitungsmodellen entwickelt worden waren, jedoch über keine Theorie des grundlegenden psychischen Geschehens von Menschen und der Entstehung von psychischen Störungen (die sogenannte Ätiologie) verfügten. Aufbauend auf den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Psychologie formulierte Grawe seine Konsistenztheorie als Erklärung für das Funktionieren der menschlichen Psyche sowie als Basis für seine „Allgemeine Psychotherapie“.

 

Die Konsistenztheorie.

 

Sehr vereinfacht ausgedrückt betrachtet die Konsistenztheorie die menschliche Psyche als ein hochkomplexes System, das nach Bedürfnisbefriedigung und somit nach Konsistenz strebt. Konsistenz entsteht, wenn 1. ein Zustand von Harmonie und Balance innerhalb des psychischen Systems erzielt werden kann, indem unterschiedliche Bedürfnisse gleichzeitig berücksichtigt werden können, d.h. alle relevanten psychologischen Bedürfnisse ihren Platz haben und wenn 2. eine Umwelt geschaffen werden kann, welche Möglichkeiten zur Bedürfnisbefriedigung bietet.

 

Die psychologischen Grundbedürfnisse.

 

In der psychologischen Forschung gibt es keine einheitliche Ansicht davon, welches die zentralen psychologischen Grundbedürfnisse von Menschen sind. Klaus Grawe wählte als die aus seiner Sicht relevantesten vier aus:

  • Das Bedürfnis nach Lustbefriedigung und Unlustvermeidung
  • Das Bedürfnis nach Bindung und Vermeidung von Bindungsverlust
  • Das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz
  • Das Bedürfnis nach Kontrolle und Verhinderung von Kontrollverlust

Wie Sie vielleicht bemerkt haben, besteht jedes Grundbedürfnis aus zwei Aspekten: Etwas soll oder will erreicht werden und etwas soll vermieden werden. Die Verhaltensweisen, wie es zur Bedürfnisbefriedigung kommen kann, sind teilweise angeboren, teilweise erlernt und werden im Zentralnervensystem in Nervenzellnetzwerken oder –verbänden abgespeichert, welche Grawe als „Schemata“ bezeichnet. Schemata, welche der Bedürfnisbefriedigung dienen, werden „Annhäherungsschemata“ genannt, Schemata, welche Bedürfnisse schützen und somit die Person vor psychischen Verletzungen schützen sollen, heissen „Vermeidungsschemata“. Gemäss Grawe erleben Menschen dann ein hohes Ausmass an Konsistenz, wenn sie annäherungsdominiert ihr Leben führen und gestalten können und nur in Notsituationen Vermeidungsschemata aktivieren müssen. Ein Übermass an Vermeidungsschemata und –verhalten führt zu einem Erleben von Inkonsistenz. Hält dieses Ungleichgewicht über eine längere Zeit an, kann es zur Entwicklung einer Symptomatik und schliesslich zur Ausbildung einer psychischen Störung führen.

 

Mir gefällt an dem Ansatz besonders, dass er universell ausgerichtet ist (alle Menschen streben nach Konsistenz und erleben Inkonsistenz in bestimmten Bereichen ihres Lebens) und grundsätzlich nicht pathologisierend (statt von psychischen Störungen wird von Inkonsistenz gesprochen, welche wie oben erwähnt, wir alle erleben, was bei psychischen Störungen nicht der Fall ist).

 

Konflikte.

 

Wie bereits erwähnt, kann eine zentrale Quelle von Inkonsistenz darin bestehen, wenn das psychische System von Menschen von Vermeidungsschemata dominiert wird. Das Extrembeispiel dafür ist die Person, die sich in ihrem Zuhause verschanzt hat und dieses nicht mehr verlässt, damit ihr nichts Schlimmes passiert. Diese Person erlebt zwar vermutlich ein starkes Gefühl von Sicherheit, was jedoch auf Kosten der Befriedigung anderer Bedürfnisse geht. Sie wird beispielsweise kaum befriedigende Beziehungserfahrungen machen können oder das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung wird leiden.

 

Daneben ist eine weitere zentrals Quelle von Inkonsistenz, wenn es zu Konflikten zwischen Schemata kommt. Grob kann hier unterschieden werden zwischen einem

  • „Annäherungs-Annäherungs-Konflikt“:
    Zwei Annäherungsschemata können nicht gleichzeitig verfolgt werden. Dies kann der Fall sein, wenn Sie am Wochenende entweder ausschlafen oder früh aufstehen und einen schönen Ausflug machen möchten: Sie können sich nicht beide Wünsche gleichzeitig erfüllen.
  •  „Vermeidungs-Vermeidungs“-Konflikt:
    Sie stehen vor zwei Optionen, die genauso unbefriedigend sind. Beispielsweise haben Sie bei der Arbeit einen Fehler gemacht und müssen sich nun entscheiden, ob sie dies ihrem Chef mitteilen oder es für sich behalten, was vermutlich dazu führen wird, dass ihr Vorgesetzter es später trotzdem herausfinden wird.
  •  „Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt“:
    Im Beispiel von oben: Die Person, die sich zuhause verschanzt hat, möchte eigentlich gerne wieder unter Menschen, also das Haus verlassen (Annäherung), muss dafür aber in Kauf nehmen, sich Gefahren auszusetzen (Vermeidung).

Aus psychotherapeutischer Sicht ist vor allem der letzte Konflikt interessant, da er häufig mit Grundeinstellungen, Erfahrungen und Glaubenssätzen einer Person zusammenhängt. Woher kommt die Überzeugung dieser Person, dass die Welt „da draussen“ so gefährlich ist? Was macht es für diesen Menschen so wichtig, sich sicher zu fühlen? Dieser Konflikt hängt oft mit Prägungen aus der eigenen Geschichte zusammen, welche zur Entwicklung von sogenannten „Konfliktschemata“ führen. Eine Annäherungs- und Vermeidungstendenz sind quasi zu einem Schema zusammengewoben und werden immer gleichzeitig aktiviert. Im obigen Beispiel: Vielleicht hat die Person als Kind die Erfahrung gemacht, dass frühe Bezugspersonen, z.B. die Mutter auf Beziehungsangebote häufig mit Ablehnung, Ärger oder Überforderung reagierte, was sich für dieses Kind bedrohlich anfühlte und Angst auslöste. Die Botschaft des Konfliktschemas würde dann etwa folgendermassen lauten: „Wenn ich Kontakt zu anderen Menschen aufnehme (was ich ja eigentlich möchte, weil es meinem Bedürfnis entspricht), werde ich gleichzeitig Angst erleben (was ich ja eigentlich nicht möchte, weil es sich nicht gut anfühlt und nicht meinem Bedürfnis entspricht).

 

Die Aufgabe der Therapie.

 

In der Therapie geht es nun darum, Menschen ihre Bedürfnisse und die damit verbundenen Schemata und Schemakonflikte bewusst zu machen. Und sie dabei zu unterstützen, neue Schemata, d.h. neue Wege zur Bedürfnisbefriedigung zu entdecken und entwickeln. Im Beispiel von oben: Dass die Person lernen kann, dass es möglich ist, Kontakt zu anderen Menschen zu erleben, ohne Angst dabei empfinden zu müssen. Und dass es noch andere Wege geben kann, sich vor dem Erleben von Angst zu schützen, statt sich zuhause zu verschanzen.

 

Schlussbemerkung

 

Wie Sie vielleicht beim Lesen gemerkt haben, bin ich vom Ansatz von Grawe sehr überzeugt und finde ihn stimmig. Allerdings empfinde ich ihn, bzw. die Sprache auch als etwas trocken und theoretisch. Für mich lässt sich dieser Ansatz wunderbar mit der Sprache des Ansatzes der „Inneren Familiensystemtherapie“ von Richard Schwartz verbinden, der auf einer verwandten theoretischen Grundlage aufbaut, jedoch eine einfacher zugängliche Sprache verwendet. Wenn Sie dieser Ansatz interessiert, finden Sie an diesem Artikel bestimmt Gefallen. Und zusätzlich lässt sich der Ansatz von Grawe auch wunderbar mit der PSI-Theorie von Julius Kuhl verbinden. Mehr darüber finden Sie hier.

 

Vielen Dank für Ihr Interesse und willkommen bei Ihnen.

 

Gehen Sie annäherungsorientiert mit sich und anderen um und vermeiden Sie zu viel Vermeidung, das ist das Beste, was Sie für Ihre Konsistenz und jene Ihrer Mitmenschen tun können.

 

Herzlich,

Simon Gautschy

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Psychotherapie Simon Gautschy

M.Sc. Simon Gautschy

Eidg. anerkannter Psychotherapeut
Fachpsychologe für Psychotherapie FSP

Rathausgasse 17

5000 Aarau

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