HSP-ABC

Wie Du vermutlich bereits weisst, beschäftige ich mich beruflich und auch persönlich leidenschaftlich mit dem Thema Hochsensibilität und liebe es, Menschen dabei zu unterstützen, mit dieser angeborenen neurobiologischen Besonderheit gut zu leben. In meinen Beratungen und Therapien tauchen immer wieder ähnliche Unterthemen auf, bei denen es regelmässig bei meinen Patient*innen und Klient*innen zu Aha-Erlebnissen kommt. Um auch Dir einige Aha-Erlebnisse zu ermöglichen, falls Du ebenfalls zu der sensibleren Sorte Mensch gehören solltest, habe ich die in Verbindung mit Hochsensibilität am Häufigsten immer wieder auftauchenden Unterthemen in diesem Artikel aufgelistet und konsequent nichtalphabetisch geordnet – als HSP-ABC.

 

Hochsensibilität
Der Ausdruck Hochsensibilität wurde von der amerikanischen Psychotherapeutin Elaine N. Aron geprägt und in Ihrem Buch „The Highly Sensitive Person“ einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der englische Fachausdruck für dieses Phänomen lautet „Sensory Processing Sensitivity“ (auf Deutsch in etwa „Sensorische Verarbeitungssensitivität). Im deutschen Sprachraum werden die Begriffe Hochsensibilität oder Hochsensitivität verwendet. Von Hochsensibilität sind 15 bis 20% aller Menschen und höher entwickelten Säugetiere betroffen. Gemäss Elaine Aron sind 50% oder mehr aller Personen, die eine Psychotherapie aufsuchen, hochsensibel.

 

Subtypen
Die wissenschaftliche Forschung konnte drei Unterkategorien von Hochsensibilität identifizieren. D.h. hochsensible Menschen können entweder nur eines oder mehrere der folgenden Merkmale aufweisen: leichte Reagibilität (‚ease of excitation‘), niedrige Reizschwelle (‚low sensory threshold‘), und ästhetische Sensitivität (‚aesthetic sensitivity‘). Die leichte Reagibilität bezieht sich auf die ausgeprägtere Tendenz zur mentalen Überlastung bei hohen oder vielen Anforderungen und Erwartungen, die niedrige Reizschwelle eher auf die Tendenz zur sensorischen Überlastung bzw. Überreizung aufgrund von Sinnesinput. Die ästhetische Sensitivität trifft auf Menschen zu, die besonders empfänglich für Erfahrungen von Schönheit sind (in der Natur, in Form von Kunst, Musik etc.). Die ersten beiden Merkmale hängen stärker mit der Persönlichkeitseigenschaft „Neurotizismus“ zusammen, das letzte Merkmal mehr mit der Eigenschaft „Offenheit“.

 

Introvertiert oder extravertiert?
70% der hochsensiblen Menschen sind stark oder eher introvertiert (tanken vor allem dann auf, wenn sie alleine sind und in ihre innere Welt eintauchen können); 30% sind stark oder eher extravertiert (tanken vor allem im Kontakt mit anderen Menschen auf).

 

High Sensation Seeker (HSS)
High Sensation Seekers sind hochsensible Menschen (High), die zusätzlich zu ihrer ausgeprägteren Sensibilität auch noch die Eigenschaft „Sensation Seeking“ besitzen. Sensation Seeking bezeichnet die Suche nach Abwechslung und neuen Erlebnissen und Erfahrungen. Menschen, bei welchen nur die Eigenschaft „Sensation Seeking“ stark ausgeprägt ist, ohne Hochsensibilität, neigen zu impulsivem Verhalten (erst handeln, dann denken). High Sensation Seekers sind zwar erfahrungshungrig und oftmals auch risikofreudig, jedoch handeln sie grundsätzlich wohlüberlegt und sorgfältig vorbereitet (erst denken, dann handeln.) Eine grosse Herausforderung in der Alltags- und Lebensbewältigung stellt für High Sensation Seekers ihre schmale Komfortzone dar: Einerseits sind diese Menschen sehr schnell unterstimuliert, wenn es ihnen an Abwechslung und neuen Erfahrungen fehlt, anderseits geraten sie auch schnell in Überstimulation aufgrund ihrer Sensibilität.

 

Hochbegabung
Es gibt Autoren von Artikeln im Internet oder von Selbsthilferatgebern, welche behaupten, dass hochsensible Menschen immer auch hochbegabt seien. Das ist falsch, es gibt keinen eindeutigen Zusammenhang. Aus der Forschung wissen wir, dass 15-20% der Menschen hochsensibel sind, allerdings nur 2% der Bevölkerung hochbegabt ist, d.h. über einen Intelligenzquotienten von über 130 verfügt. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass hochbegabte Menschen überdurchschnittlich häufig auch sensibler sind. Eine interessante Theorie hierzu ist Dabrowskis Theorie der positiven Desintegration und der Übererregbarkeiten (Overexcitabilities) hochbegabter Menschen.  

 

AD(H)S und Hochsensibilität
Weder tritt Hochsensibilität immer gemeinsam mit einer AD(H)S auf noch schliessen sich die beiden Phänomene aus. Es gibt hochsensible Menschen mit AD(H)S oder ohne. Genauso gibt es Menschen mit AD(H)S, welche hochsensibel sind oder auch nicht. Gemeinsam ist bei beiden Phänomenen die ausgeprägte Reizoffenheit. Gemäss Birgit Trappmann-Korr besteht der Hauptunterschied der beiden Erscheinungen darin, dass Menschen mit AD(H)S über einen analytischen (linkshemisphärischen) Wahrnehmungs- und Denkstil verfügen, hochsensible Menschen hingegen über einen holistischen (rechtshemisphärischen). Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Menschen mit AD(H)S auch in reizarmen Umgebungen Mühe haben, ihre Aufmerksamkeit zu steuern und länger konzentriert bei einer Sache zu bleiben, während hochsensible Menschen in reizarmen oder übersichtlichen Umgebungen zu Bestform auffahren.

 

Autismus und Hochsensibilität
Genau wie bei AD(H)S und Hochsensibilität gilt auch hier: Autismus ist nicht gleichzusetzen mit Hochsensibilität, auch wenn es hochsensible Menschen gibt, die zudem von einer Autismusspektrumsstörung betroffen sind. Ein Kernunterscheidungsmerkmal dieser beiden Phänomene liegt darin, dass vom Autismusspektrum betroffene Menschen Schwierigkeiten mit menschlichen Interaktionen erleben, auch in reizarmen Situationen, während der feinfühlige Umgang mit Menschen eine der Stärken von hochsensiblen Menschen darstellt, wenn die Umgebungsbedingungen stimmen.

 

Soziale Phobie / Schüchternheit und Hochsensibilität
Hochsensible Menschen können schüchtern sein oder sozial ängstlich, müssen aber nicht. Oftmals wird die Tendenz, erst einmal genau zu beobachten, vor allem in neuen Situationen, als Schüchternheit bezeichnet. Bei sozialer Angst oder Schüchternheit steht jedoch die Angst vor negativer Beurteilung und Bewertung im Vordergrund, bei Hochsensiblen ist es das stärker ausgeprägte Verhaltenshemmungssystem (BIS).

 

Scanner
Der Begriff der „Scanner-Persönlichkeit“ wurde von der Amerikanerin Barbara Sher geprägt und bezeichnet Menschen, welche vielseitig interessiert und begabt sind und sich nicht auf ein Interessensgebiet festlegen können oder wollen. Oftmals leiden Scanner-Menschen in der westlichen Welt darunter, dass in unserer Kultur der „Fachidiot“, bzw. die Spezialistin als Ideal gilt und sie oft zu hören bekommen, dass sie sich verzetteln würden oder sich doch einfach einmal festlegen sollten. Barbara Sher empfiehlt Scanner-Personen, diese Eigenschaft an sich akzeptieren und lieben zu lernen und sich zu gestatten, in keinem der Interessensgebiete absoluter Experte, dafür in vielem richtig gut zu werden.

 

BIS/BAS
Der Psychologe Jeffrey Alan Gray entwickelte eine biopsychologische Theorie der Persönlichkeit, die davon ausgeht, dass zwei zentrale Gehirnsysteme den Bezug von Menschen zu ihrer Umwelt steuern: Das BIS (Verhaltenshemmungssystem) führt eher zu Vermeidungsverhalten, da Menschen mit einem ausgeprägten BIS unangenehme Reize stärker als aversiv erleben; das BAS (Verhaltensaktivierungssystem) führt stärker zu Annäherungsverhalten, da Menschen mit einem ausgeprägten BAS stärker auf wahrgenommene und erwartete Belohnung reagieren und fokussieren. Elaine Aron geht davon aus, dass das zentrale Kernmerkmal hochsensibler Menschen ein stärker ausgeprägtes Verhaltenshemmungssystem (BIS) ist. Allerdings gibt es auch eine Unterkategorie hochsensibler Menschen, welche zudem über ein ebenfalls stark ausgeprägtes Verhaltensaktivierungssystem verfügen (High Sensation Seeker).

 

Temperament
Die Psychologen Alexander Thomas und Stella Chess untersuchten in den 50er-Jahren in einer Langzeitstudie, in welchen Eigenschaften sich Kinder unterscheiden und fanden 3 Temperamentskategorien sowie 9 Dimensionen. Die drei Kategorien: Einfache Kinder, die pflegeleichten, welche sich leicht anpassen und grundsätzlich gut gestimmt sind; schwierige Kinder, welche schneller weinen, sich schwerer auf neue Situationen einstellen können und mehr Mühe mit Veränderungen haben und die langsam aufwärmenden, welche mehr Zeit brauchen, um sich auf eine neue Situation einzustellen, jedoch weniger stark emotional reagieren als die schwierigen Kinder. Die 9 Dimensionen: Aktivitätsniveau (hoch vs. niedrig), Rhythmus/Regularität (gleichmässig vs. Ungleichmässig), Reaktion auf Neues (Annäherung vs. Vermeidung), Anpassungsfähigkeit (hoch vs. Niedrig), Sensibilität (hoch vs. Niedrig), Intensität der Reaktion (hoch vs. Niedrig), Stimmung (ausgeglichen, freundlich vs. Launisch, unfreundlich), Ablenkbarkeit (hoch vs. Niedrig), Aufmerksamkeitsspanne (lange beim selben Objekt vs. Kurz, leicht abgelenkt).

 

Persönlichkeit (BIG 5)
In der Persönlichkeitspsychologie wird das Modell des britischen Psychologen Hans Jürgen Eysenck verwendet, das davon ausgeht, dass sich die Persönlichkeit von Menschen hauptsächlich in 5 Bereichen unterscheidet: Offenheit, Neurotizismus, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Extraversion. Alternativen bieten beispielsweise das Modell von Myers-Briggs und die PSI-Theorie von Julius Kuhl, welche beide auf der Typologie des (übrigens auch hochsensiblen) Psychiaters C.G. Jung basieren.

 

Differential Susceptibility
Differential Susceptibility oder differenzielle (unterschiedliche) Empfänglichkeit bezeichnet die Erkenntnis aus der wissenschaftlichen Forschung des Entwicklungspsychologen Jay Belsky, dass hochsensible Menschen, insbesondere Kinder sowohl deutlich stärker auf negative Umgebungs- und Erziehungbedingungen reagieren und stärker darunter leiden als weniger sensible und zudem deutlich stärker von guten Erziehungs- und Umgebungsbedingungen profitieren. Der Schweizer Hochsensibilitätsforscher Patrice Wyrsch verwendet dafür die Begriffe der vulnerablen (stärker negativ geprägten) Hochsensibilität und der Vantage- (stärker positiv geprägten) Hochsensibilität.

 

Hochsensitivität
Im deutschen Sprachraum werden die Begriffe Hochsensibilität und Hochsensitivität meist gleichbedeutend verwendet. Die wissenschaftliche Forschung bevorzugt den Begriff der Hochsensitivität. Manche Fachpersonen verwenden den Ausdruck Hochsensitivität für Wahrnehmungen im über- oder aussersinnlichen Bereich in Abgrenzung zu Hochsensibilität, die sich auf direkt sinnlich wahrnehmbare Phänomene bezieht.

 

Hochsensibilität und Spiritualität
Viele, wenn nicht die meisten hochsensiblen Menschen beschäftigen sich in irgendeiner Form mit dem Thema Spiritualität, da der mit der Hochsensibilität verbundene ganzheitlich-intuitive (holistische) Denk- und Verarbeitungsstil auf das Erkennen der grösseren Zusammenhänge (von allem) ausgerichtet ist.

 

Sequentiell-analytischer vs. Ganzheitlich intuitiver Denk- und Verarbeitungsstil
Aus der Hirnforschung lässt sich grob vereinfacht der linken Hirnhälfte ein eher sequentiell-analytischer Denk- und Verarbeitungsstil zuordnen, der rechten Hirnhälfte ein eher ganzheitlich-intuitiver Denk- und Verarbeitungsstil. Der „linke“ Stil eignet sich besonders gut für Tätigkeiten und Aufgaben, bei welchen es darum geht, Probleme oder Sachverhalten distanziert, sachlich nüchtern zu betrachten und schrittweise vorzugehen. Beispielsweise beim Lösen einer Mathematikaufgabe oder beim Erstellen eines Schritteplans für ein Projekt. Der „rechte“ Stil, welcher bei hochsensiblen Menschen in der Regel stärker ausgeprägt ist, eignet sich besonders gut für kreative Aufgaben und Tätigkeiten, bei welchen es darum geht, in alle Richtungen, assoziativ zu denken oder zu träumen und zu visionieren.

 

Kritik
Eine Kritik der Temperamentsforscherin Mary Rothbart am Konstrukt der Hochsensibilität lautet, dass der HS-Fragebogen von E. Aron kein einheitliches, sondern zwei unterschiedliche Phänomene messe: Negativer Affekt und ästhetische Sensitivität. Der Persönlichkeitsforscher Jens Asendorpf betrachtet HS als Unterklasse der Persönlichkeitseigenschaft Neurotizismus. Ein Gegenargument dazu stammt aus der Annahme der "differential susceptibility": Nur Hochsensible, die unter schlechten Bedingungen aufgewachsen sind, neigen verstärkt zu Neurotizismus und Ängstlichkeit. Hochsensible mit guten Bedingungen sind emotional stabiler. Eine Befürworterin aus wissenschaftlichen Kreisen ist die Psychologin Sandra Konrad, welche in Hamburg zu dem Thema forscht.

 

(Entwicklungs-)Trauma und Hochsensibilität
Aufgrund der „differential Susceptibility“ reagieren hochsensible Kinder schneller und stärker auf Erziehungs- und Umgebungsbedingen, welche ihren Bedürfnissen nicht gerecht werden und leiden stärker und länger darunter. Umgebungsbedingungen, die von weniger sensiblen Kindern als „normal“ oder sogar gut wahrgenommen werden, können für hochsensible Kinder traumatisierend wirken. Das in unserer Gesellschaft vorherrschende Klein- oder Nuklearfamilienmodell mit 1 bis 2 Hauptbezugspersonen führt in den meisten Fällen bereits dazu, dass zentrale emotionale Bedürfnisse von hochsensiblen Kindern verletzt oder nicht genügend befriedigt werden. Das afrikanische Sprichwort „es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind gross zu ziehen“, gilt für hochsensible Kinder besonders, da sie meist über ein heterogenes Persönlichkeitsprofil verfügen.

 

Heterogenes vs. Homogenes Persönlichkeitsprofil
Menschen mit einem homogenen Persönlichkeitsprofil sind sehr einheitliche Personen im Gegensatz zu „heterogenen“ Menschen, welche total unterschiedliche oder sogar gegensätzliche Wesenszüge ihr Eigen nennen. Beispielsweise ist eine „homogene“ Person grundsätzlich möglicherweise eher ruhig, eher unternehmungsfreudig, eher knausrig, eher optimistisch etc., was sich in unterschiedlichen Situationen auf die gleiche Art und Weise zeigt. „Heterogene“ Personen können sich selber und auch ihrem Umfeld wie völlig verschiedene Menschen vorkommen, je nach Situation, Tagesform, körperlichem Zustand, Beziehung etc.

 

Vielen Dank für Dein Interesse und willkommen bei Dir!

 

Bleib auch Du am Ball und informiere Dich über Deine Hochsensibilität oder sonstige Wesenszüge - je besser wir Menschen uns kennen, desto besser können wir uns Lebensbedingungen schaffen, unter denen wir aufblühen können.

 

Und wenn Du noch Fragen zu dem Thema hast oder Dir Ergänzungen einfallen, die unbedingt auch noch auf meine Liste gehören, zögere nicht, Dich bei mir zu melden.

 

Herzlich,

Simon

 

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PSYTSG

Psychotherapie Simon Gautschy

M.Sc. Simon Gautschy

Eidg. anerkannter Psychotherapeut
Fachpsychologe für Psychotherapie FSP

Rathausgasse 17

5000 Aarau

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