Meine Wutgeschichte

Zwei Hände, welche Wunderkerzen halten
Paradoxerweise ist es gerade die Emotion Wut, die uns tiefe Verbindung mit anderen ermöglicht.

 

Es war, als hätte ich mein Leben lang auf diesen Moment gewartet.

 

Ich stand im grossen Retreat-Raum, umgeben von 35 fremden Menschen, mit einem Mikrofon in der Hand und hatte gerade allen mitgeteilt, dass ich starke Wut verspüre und diese rauslassen will.

 

Ich wusste nicht, was in mich gefahren war.

 

Ich hatte früh im Leben gelernt, dass Wut zu den negativen Gefühlen gehört, die es zu unterdrücken oder zu überwinden gilt. Ausdrücklich in meiner Familie und etwas unterschwelliger in den Sozialisationsinstitutionen Kindergarten und Schule. Was dazu geführt hatte, dass ich als Jugendlicher dieses Gefühl nicht mehr spürte. Und am Ende meiner Pubertät in einem Austauschjahr in den USA in eine heftige Depression tauchte. Weil ich mich von meiner Lebenskraft abgetrennt hatte, die ich brauchte, um meinen ureigenen Weg im Leben zu finden und zu gehen.

 

Ich hatte mich abgetrennt von der gesunden Aggression, die jede Lebensform benötigt, um sich entwickeln und ihr Potenzial zum Ausdruck bringen zu können.

 

Wie es Lassaad, mein Theaterlehrer in Brüssel poetisch ausdrückte: «Geburt, Individuation, Selbstwerdung ist kein sanfter, müheloser, friedlicher Prozess. Sondern gewaltsam, blutig, explosiv. Schau Dir nur einmal die ständigen Explosionen im Frühling an, wenn die Blütenknospen das Holz der Äste sprengen. Oder die Triebe im Boden die Erde sprengen, um ans Licht zu gelangen.»

 

Nach einem Psychologiestudium, einer Psychotherapieweiterbildung, unzähligen Büchern und viel Selbsterfahrung stand ich also an meinem ersten Gruppenretreat in New Eden, Holland mitten im Saal und war bereit, meine Zugehörigkeit zu der Retreatgruppe aufs Spiel zu setzen, um mich endlich in den tiefsten Schichten meiner Seele mit meiner Wut anzufreunden und Frieden zu schliessen.

 

Zuvor hatten wir uns im Raum bewegt, getanzt, Kontakt mit den anderen aufgenommen. Ich hatte mich überhaupt nicht wohl gefühlt dabei. Ich kannte die Leute nicht wirklich. Da war zu viel Lächeln, zu viel Sanftmut und Harmonie und Gespüre für mich. Es wirkte für mich unauthentisch, mich daran zu beteiligen. Und: Ich fühlte eine enorme Wut in mir. Ich hatte genug davon, mich zu verstellen, mich anderen anzupassen, entgegen meinen eigenen Bedürfnissen und Impulsen. Dafür war ich nicht nach Holland gereist. Sondern, um mich authentisch mit meinem ganzen Sein anderen zu zeigen. Mich ganz zuzumuten.

 

Ich wusste, dass ich mein Erleben, meine Wut mit den anderen teilen musste, um mich wirklich authentisch zugehörig zu fühlen. Und meine Prägungsstimme befürchtete, dass ich mit Schimpf und Schande aus dem Saal gejagt würde, wenn ich das wagte. Am Liebsten hätte ich mich heimlich aus dem Raum und Retreat geschlichen und wäre nach Hause gereist.

 

Statt dessen hatte ich in der Reflexionsrunde um das Mikrofon gebeten. Und mich mit meiner Wut "geoutet".

 

Nur schon das Teilen fühlte sich unglaublich erleichternd an. Und zu erfahren, dass sich Christian, der Facilitator über meine authentische Mitteilung freute. Die Möglichkeit zu erhalten, um Hilfe zu bitten, weil ich mich mit meiner Wut überfordert, hilflos und unsicher fühlte. Zu erleben, wie ein anderer Teilnehmer, Rick, sofort aufsprang, um mit mir in den «Ring» zu steigen. Und wie verbindend es sich anfühlte, als Rick und ich uns gegenseitig an den Schultern hielten, uns mit voller Kraft gegeneinander stemmten und einander unsere Wut entgegenschrien.

 

Die Folge: Ziemlich unspektakulär. Ich erfuhr, dass es im Kontext und Setting von New Eden nichts Ungewöhnliches war, dass jemand seine Wut zum Ausdruck bringen wollte. Einige Teilnehmende meldeten mir im Anschluss zurück, dass es ihnen gefiel, mich mit meiner Feuerenergie zu erleben, was mich sehr freute und berührte. Und mit Rick, meinem Sparringpartner verbindet mich bis heute eine besondere Freundschaft: Ungefähr alle ein bis zwei Monate treffen wir uns per Videocall und verbringen etwas Zeit miteinander. Manchmal teilen wir unser Erleben. Manchmal schweigen wir. Und immer schwingt diese Erfahrung der geteilten Wut des Retreats mit, welches übrigens das erste war für uns beide. Die geteilte Erfahrung von Wut, die uns ein tiefes Gefühl von Sicherheit ermöglicht.

 

Mein Fazit: Wir können uns erst wirklich sicher fühlen, uns tief entspannen und verbinden in Beziehung zu anderen, wenn wir die Gewissheit haben, dass wir auch mit unserer Wut, unserer gesunden Aggression, unserem Feuer und unserer ureigenen Individualität willkommen sind.

 

Leider erfahren wir das viel zu selten.

 

Ein wichtiges Anliegen von mir und auch in der gemeinsamen Arbeit mit Judith ist es, Erfahrungsgefässe zu schaffen, in welchen Menschen genau diese Erfahrung machen können.

 

Zu den Daten für den nächsten Rage Circle.

 

Zu weiteren Erfahrungsberichten aus New Eden.

 

Mehr über Lebenskraft und Feuerenergie.

 

Herzlich willkommen bei Dir, mit allem, was Dich ausmacht. Deiner Wut, Deiner Freude, Deinem ganzen Sein.

 

Simon

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PSYTSG

Psychotherapie Simon Gautschy

M.Sc. Simon Gautschy

Eidg. anerkannter Psychotherapeut
Fachpsychologe für Psychotherapie FSP

Rathausgasse 17

5000 Aarau

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