Mich haben die dunklen Seiten unseres Menschseins von klein auf schon sehr fasziniert. Und ich wage zu behaupten, dass es Dir nicht viel anders geht – die erfolgreichsten Geschichten, sei es in Büchern oder in Filmen, von Hollywood ganz zu schweigen, basieren nämlich auf dem einfachen Strickmuster, dass ein Held sich auf den Weg macht, sich weiter zu entwickeln und die Heldin sich am Ende ihrem Schatten, einer dunklen Seite von sich selber, stellen muss, um wirkliche und tiefgreifende Transformation zu erleben.
In diesem Artikel erzähle ich Dir mehr darüber, was wir Psycholog*innen unter dem «Schatten» verstehen und wie Du Schattenarbeit nutzen kannst für Deine persönlichen Transformationsprozesse.
Der Schweizer Psychiater C.G. Jung stellte aufgrund von Erfahrungen aus der therapeutischen Arbeit mit seinen Patient*innen, aufgrund seiner eigenen Selbstreflektion und aus der Beschäftigung mit Träumen, Märchen und Mythen die Theorie auf, dass es universelle Strukturen der menschlichen Entwicklung gibt, sogenannte Archetypen, z.B. Anima und Animus, die Persona oder der Schatten. Der amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell entdeckte, dass dies auch für Geschichten gilt, die sich Menschen erzählen: Dass diese nämlich kultur- und zeitunabhängig immer ähnlichen Mustern zu folgen scheinen.
Das wohl zentralste Muster oder Motiv sowohl in Geschichten wie auch in der menschlichen Entwicklung ist die Auseinandersetzung zwischen Held und Schatten – der archetypische Kampf zwischen Gut und Böse.
In der Psychologie entspricht die Heldin unserer Persona oder Maske, jener Seite von uns, mit der wir uns sicher fühlen und mit der wir uns gerne anderen zeigen, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass wir damit gut ankommen, dass wir Aufmerksamkeit, Bestätigung, Anerkennung erhalten. Der Schatten umfasst alle Seiten und Wesenszüge von uns, die nicht sein durften, die früh im Leben abgelehnt, bestraft, abgewertet wurden und die wir gut zu verstecken lernten.
Nun ist es so, dass wir Menschen nur dann ein wahrhaftig erfülltes, glückliches und sinnhaftes Leben führen können, wenn wir unsere Ganzheit zum Ausdruck bringen können, d.h. uns mit allen Seiten von uns zeigen dürfen. Wir uns nur dann ganz gesehen, erkannt und geliebt fühlen, wenn wir uns auch mit unseren Schattenseiten zeigen können.
Was sehr anspruchsvoll sein kann, da, wie erwähnt, die Schattenseiten viel Schmerz, Verletzung, Frust, Trauer und Wut in sich tragen und diese auch zum Ausdruck bringen wollen. Meistens dem Gegenüber, das zur Verfügung steht, oftmals in der Partnerschaft. Welches allerdings überrumpelt, überfordert oder einfach nur verständnislos reagiert, weil es die emotionale Ladung der Schattenanteile nicht einordnen kann. Und diese möglicherweise eigene Schattenanteile aktiviert, die in der Folge ihrerseits ebenso vehement und heftig zum Ausdruck kommen wollen.
Aus diesem Grund ist es enorm wichtig, dass wir uns gut selber um unsere Schattenanteile und deren Heilung kümmern. In einem ersten Schritt geht es darum, uns dieser Anteile überhaupt wieder bewusst zu werden. Uns diesen zu stellen, um in einem zweiten Schritt diese dann in unsere Persönlichkeit integrieren zu können. Und unser Glückspotenzial entfalten können, in unserem Leben, in unserer beruflichen Entwicklung und in unseren Beziehungen.
Schattenarbeit läuft am Einfachsten ab in einem sicheren und geschützten Beziehungsgefäss, beispielsweise mit einem Coach oder einer Therapeutin. Oder noch besser im geschützten Rahmen einer unterstützenden Gruppe.
Wenn Du selber jetzt schon einem Schattenanteil von Dir auf die Schliche kommen möchtest, kannst Du gerne folgende Übung einmal ausprobieren:
Der Ablauf:
- Frage: Um Dein Glück, Deine Erfüllung, Deine Zufriedenheit zu erreichen in Deinem Leben, wie versuchst Du zu sein oder wie denkst Du, sein zu müssen? - das ist Deine Persona, Dein*e Held*in oder Dein Ideal-Ich. Das Ideal-ich gehört zu den erwünschten Ichs, mit welchen wir gute Erfahrungen gemacht haben in unserer Biografie (Lob, Anerkennung, Bestätigung dafür erhalten haben) oder welches als gesellschaftliches Ideal gilt. Das Problem am Ideal-Ich ist häufig, dass es nicht ganz integer ist, d.h. unser Verhalten nicht aus der gegenwärtigen Bedürfnissituation heraus zu lenken versucht, sondern aufgrund einer Zukunftsvorstellung. Und dadurch gewisse gegenwärtige Bedürfnisse unterdrückt. Was zu einem inneren Bedürfnisdruck führt.
- Frage: Wie sieht das genaue Gegenteil dieses Ideals aus? - das ist der Schatten, der immer entsteht, wenn ein Ideal auftaucht. Oder: Was für ein Anteil, was für eine Seite kommt bei Dir zum Vorschein, wenn es Dir nicht gelingt, Dein Ideal zu erreichen oder aufrechtzuerhalten? Ein wertvoller Wegweiser in die Schattenwelt können Gefühle von Scham, Schuld und Angst, Trauer, Wut und Schmerz sein
- Frage: Worauf möchte Dich der Schatten hinweisen? Was ist das Gold, die Medizin, das gesunde Bedürfnis im Schatten? Was hätte es zur Folge für Dich und Dein Umfeld, wenn es Dir gelingen würde, die mit dem Schatten verbundene Energie ganz entspannt und aus der Fülle, aus Deinem Herz heraus zum Ausdruck zu bringen? Wie könnte das gehen?
- Überprüfe, ob Du diese Energie / diesen Anteil gleich im gegenwärtigen Moment mehr berücksichtigen möchtest oder ob es Anpassungen in Deiner Tagesgestaltung braucht in den kommenden Tagen.
Achtung: Schattenarbeit und Schattenintegration kann sehr aufwühlend sein und insbesondere Empfindungen von Scham, Schuld und Angst aufwirbeln, da diese Emotionen im Alltag dafür sorgen, dass die Schattenanteile im Unterbewusstsein eingesperrt bleiben. Und ins Bewusstsein schwappen, wenn wir versuchen, die Schattenseiten zu bergen. Falls Du also diese Emotionen erleben solltest beim Durchführen dieser Übung oder im Nachgang, ist das ganz normal und gehört zu dieser Vorgehensweise dazu. Und weist darauf hin, dass diese Anteile viel korrektive wohlwollende Beziehungserfahrung benötigen – ganz nach dem psychologischen Heilungsgesetz «Verletzung in Beziehung benötigt Heilung in Beziehung».
In der obigen Übung hast Du Dich mit Deinem Schatten in Bezug auf Deinen Herzensweg im Allgemeinen befasst. Du kannst dieses Vorgehen aber auch spezifisch in allen möglichen anderen Bereichen Deines Lebens anwenden: Für Deine Partnerschaft, Deinen Bezug zum Körper, zu Ernährung, Gesundheit, Freizeitgestaltung, Haushaltsführung, Familie etc.
Wenn Du Fragen hast oder mir Deine Erfahrungen mitteilen möchtest, freue ich mich, von Dir zu lesen. Oder wenn Schattenanteile von Dir mir einfach Hallo sagen und einen schönen Tag wünschen wollen, sind sie herzlich eingeladen, sich bei mir zu melden.
Ansonsten wünsche ich Dir lichtvolle Tage (wo Schatten ist, ist immer auch Licht),
herzlich,
Simon
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