Die 6 Phasen der Auseinandersetzung mit der eigenen Hochsensibilität

Bild eines Käfers im Abflug als Metapher für die Entwicklung hochsensibler Menschen

 

An das Thema Hochsensibilität geriet ich erstmals vor mittlerweile fast 20 Jahren während meinem Psychologiestudium, als ich das Buch „zart besaitet“ von Georg Parlow entdeckte und mich in seinen Beschreibungen wieder erkannte. Die Geburt meines Sohnes vor 5 Jahren regte mich noch einmal zu einer vertiefteren Auseinandersetzung mit diesem Thema an, die dazu führte, dass ich heute feststelle, wie das Thema Hochsensibilität mehr und mehr an Gehalt und Relevanz verliert für mich und mein Leben, da es sich stimmig in die Gesamtheit meiner Person integrieren konnte.

 

Wo stehst Du auf Deinem Weg mit Deiner Auseinandersetzung mit Deiner Hochsensibilität?

 

Vielleicht helfen Dir die sechs Phasen der Auseinandersetzung mit der eigenen Hochsensibilität, die ich an mir und meiner hochsensiblen Klientel beobachten konnte, eine Antwort auf diese Frage zu finden.

 

Phase 1: Phase der Euphorie, des Gefühls des Nach-Hause-Kommens und des Verstandenwerdens.

 

Du hörst zum ersten Mal vom Phänomen Hochsensibilität, von einer Freundin, Deiner Partnerin oder in einem Podcast oder liest in einem Buch oder Artikel davon. Die Beschreibung trifft genau auf Dich zu und beim Lesen oder Hören laufen Dir die Tränen über Dein Gesicht, da Du endlich Erklärungen findest für Vieles, das Dich von klein auf an Dir und an Deinem Leben beschäftigte, Du und Dein Umfeld aber nie wirklich verstehen und einordnen konnten. Eine Last fällt von Deinen Schultern, Du atmest tief aus, Ruhe kehrt ein in Deiner intensiven und bewegten Innenwelt.

 

Phase 2: Phase der ersten Ernüchterung, der Arbeit an Dir und der ersten oberflächlichen Anpassungen

 

Nachdem sich die erste Euphorie gelegt hat, wird Dir bewusst, dass sich durch die Erkenntnis Deiner Hochsensibilität Dein Leben nicht von allein grundlegend ändert, Dein Nervensystem nicht weniger stark auf innere und äussere Reize reagiert und die Menschen in Deinem Umfeld nicht viel anders mit Dir umgehen, als vor Deiner Erkenntnis. Du willst mehr wissen, das Themengebiet gründlicher erkunden, Dir Tipps und Tricks und Tools erarbeiten, in der Hoffnung, dadurch zu mehr Ruhe, Entspannung, Glück und innerem Frieden zu finden. Wie die meisten hochsensiblen Menschen probierst Du zuerst einmal den „Inneren Weg“ aus, indem Du an Dir arbeitest, Deine negativen Prägungen und Glaubenssätze identifizierst und Dir davon erhoffst, mehr Energie zu finden, um Dein anspruchsvolles Leben zu bewältigen. Deine Partnerschaft, Deine Arbeitssituation und Deinen Freundeskreis stellst Du erst einmal nicht in Frage. Vorsichtig teilst Du anderen Deine Erkenntnis über Deine Hochsensibilität mit und hoffst darauf, dass andere sich ebenfalls über dieses Thema informieren und von nun an achtsamer mit Dir und Deinen Grenzen umgehen, genauso, wie Du es tun würdest. Vereinzelte Begegnungen mit anderen hochsensiblen Menschen lassen die anfängliche Euphorie wieder aufkommen. Vielleicht suchst Du Dir auch schon regelmässigeren Austausch mit Gleichgesinnten in einer Selbsthilfegruppe oder in einem Online-Forum.

 

Phase 3: Phase der Stabilisierung

 

Die Erkenntnisse, die Du gesammelt hast und die Änderungen, die Du an Dir und Deinem Leben vorgenommen hast, führen dazu, dass Dich ein Gefühl von Sicherheit und Orientierung in Deinem Leben begleitet. Es fällt Dir nicht wirklich viel leichter, Deinen Alltag zu meistern, aber Du bist voller Hoffnung, dass es einfacher wird, denn Du kennst ja jetzt die Ursache Deiner raschen Reizüberflutung, Deines Rückzugsdrangs und Deiner Erschöpfung. Du bist überzeugt, dass das richtige Buch, die richtige Begegnung, das richtige Tool oder im Notfall die richtige Therapie Dir den Schlüssel zu Deinem Glück zeigen wird.

 

Phase 4: Phase der zweiten Ernüchterung und der Rebellion des Körpers

 

Wir Menschen können uns nicht nur von Hoffnung allein psychologisch-emotional nähren, sondern benötigen konstant bedürfnisbefriedigende Erfahrungen im Hier und Jetzt. Dies zeigt Dir Dein Körper deutlich, indem er Dir Verspannungssignale sendet, Dich leicht an Infektionen erkranken lässt, Dein Herz rasen oder Dich nur schwer aus dem Bett kommen lässt am Morgen oder Dich sogar komplett lahmlegt durch ein Burnout oder eine Depression. Du erkennst, dass Du anstehst und feststeckst. Dein hochsensibles Nervensystem lässt sich nicht durch Wissen oder intensives Bemühen umprogrammieren. Im Gegenteil, Deine vielen Bemühungen der vergangenen Zeit haben sogar dazu geführt, dass Du noch in zusätzlichen Bereichen über Deine Grenzen hinausgegangen bist und körperliche Signale überhört hast. Du erkennst, dass Bücher, Podcasts und Blogartikel Dich nur begrenzt weiterbringen und suchst nach Hilfe bei einer Fachperson, die sich idealerweise mit Hochsensibilität auskennt.

 

Phase 5: Phase der Verkörperung.

 

(Einschub: In dieser Phase hängt Deine weitere Entwicklung sehr davon ab, welche Art von Unterstützung Du erhältst. Es ist durchaus möglich, dass Du noch einmal in Phase 2 landest, wenn Du an eine Fachperson gerätst, die kognitiv-verhaltenstherapeutisch arbeitet, erneut Deine Glaubenssätze überprüfen und mit Dir neue Strategien entwickeln will, mit Hilfe derer Du Deinen Alltag besser bewältigen können solltest.)

 

Idealerweise gerätst Du in dieser Phase an eine Fachperson, welche sich mit den körperlichen Abläufen, insbesondere dem vegetativen Nervensystem im Zusammenhang mit dem Thema Hochsensibilität auskennt und Dich dabei unterstützt, erstens Dein hochsensibles Nervensystem besser kennen und verstehen zu lernen und zweitens, Dir dabei zu helfen, Dein Körperempfinden wahrnehmen zu lernen, auch in Gegenwart anderer Menschen und Dich dadurch zu erden und zu verkörpern. Das ist für hochsensible Menschen nämlich eine enorme Herausforderung aus zwei Gründen: Geraten wir Menschen in Stress, wird automatisch die Durchblutung und Energieversorgung unseres Gehirns angeregt und die Körperwahrnehmung ausgeschaltet. Um im Ernstfall schnell einen Fluchtweg zu finden oder die Schwachstelle eines Gegners identifizieren zu können. Der Fokus geht nach aussen. Dies geschieht bei hochsensiblen Menschen aufgrund des schneller und stärker auf und mit Stress reagierenden Nervensystems häufiger und leichter. Zusätzlich beginnt bei Hochsensiblen aufgrund der Tendenz zur tieferen Informationsverarbeitung auch noch der Kopf zu rattern und hört nicht mit Rattern auf, auch wenn die Stresssituation vorbei ist. Im schlimmsten Fall kommt die hochsensible Person im Lauf des Tages überhaupt nicht mehr „aus dem Kopf raus“. Erst am Abend beim Versuch, abzuschalten oder in der Nacht meldet sich der Körper dann verärgert über seine Vernachlässigung zu Wort, über Empfindungen von Unruhe, Anspannung, Hitze oder Kälte etc.

 

Selbstverständlich ist es möglich, dass Du auch ohne Hilfe einer Fachperson in diese Phase gelangst. Da sich in unserem menschlichen Nervensystem auf körperlicher, nichtsprachlicher Ebene allerdings die frühesten Prägungen durch unsere frühsten Bezugspersonen abgelagert und einprogrammiert haben, ist es aus meiner Sicht und Erfahrung praktisch unmöglich, diese zu identifizieren und zu lösen ohne ein Gegenüber, das eine korrektive Beziehungserfahrung ermöglicht.

 

Phase 6: Phase der dritten Ernüchterung und radikalen Selbstakzeptanz

 

Du hast Dich verkörpert, kennst Deine Bedürfnisse und hast gelernt, sie auch in Deinem Alltag wahrzunehmen und Deinen Alltag danach auszurichten. Hast den einen oder anderen Beziehungsabbruch hinter Dir, möglicherweise Deinen Arbeitsplatz gewechselt und kümmerst Dich viel bewusster um Deine Ernährung, Deine Grenzen und Deinen Energiehaushalt. Und trotzdem stellst Du fest, dass Dein Leben nicht einfacher wird. Im Gegenteil: Indem Du achtsamer und bewusster mit Dir selber umgehst, wird Dir deutlicher bewusst, wie wenig achtsam andere Menschen mit sich und mit der Umwelt umgehen. Dysfunktionale gesellschaftliche Strukturen, die unseren Alltag bestimmen, fallen Dir deutlicher auf. Indem Du Dir gestattest, bewusster zu leben und Dich weniger ablenken zu lassen, empfindest Du mehr Mitgefühl für andere Menschen und Lebensformen. Es ist in dieser Phase auch möglich, dass Du nicht nur wahrnimmst, was Dich persönlich beschäftigt, sondern auch kollektives Leiden, kollektive Traumata oder sogar auch den Schmerz der Natur deutlich und intensiv wahrzunehmen beginnst. Möglicherweise öffnet sich Deine Wahrnehmung ganz selbstverständlich und natürlich auch für energetische Phänomene. In dieser Phase stehst Du vor einer zentralen Entscheidung: Entweder Du fällst zurück in den alten Trott des kopf-, ziel- und leistungsgesteuerten Wahnsinns oder Du gestattest Dir, Dich radikal zu akzeptieren und konsequent Deinen Weg im Leben zu finden und zu gehen. Verbunden mit der ganzen Bandbreite und Intensität zwischen den Polen tiefster Ekstase und kaum auszuhaltendem Schmerz.

 

In dieser Phase gerät das Thema Hochsensibilität mehr und mehr in den Hintergrund. Damit Dein Menschsein als Ganzes in seiner vollumfänglichen Schönheit und Vollständigkeit zum Vorschein und Ausdruck kommen kann.

 

*

 

Hast Du eine Antwort gefunden auf die Frage, wo Du in Deiner Auseinandersetzung mit Deiner Hochsensibilität stehst?

 

Wenn Du Deine Erkenntnisse mit anderen teilen möchtest, freue ich mich über Deinen Kommentar etwas weiter unten.

 

Ansonsten wünsche ich Dir weiterhin eine atemberaubende Reise durch Dein Menschsein. Wenn Du dafür einen Guide oder Mentor benötigst, stehe ich Dir gern zur Verfügung.

 

Herzlich,

Simon

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Barbara Lienberger (Dienstag, 24 Oktober 2023 04:35)

    Herzlichen Dank für die Beschreibung der 6 Phasen. Ich bin in Phase 6 gelandet in nur 2 Monaten. Es war eine sehr intensive und herausfordernde Zeit gewesen. Mit bewussten Entscheidungen, vielen Gesprächen bei der Arbeit, Trennung vom Mann und bewussten Abstand von Freunden. Ich bin in dieser Zeit sehr gewachsen, selbstsicher geworden und habe zu mir selbst gefunden. Zusammen mit meinen 2 Söhnen. Ein wunderschönes Gefühl sich selbst wieder so gerne zu haben. Sich endlich wieder eins zu fühlen, die innere Ruhe wieder gefunden zu haben.
    Vorher war ich müde, traurig, energielos und ziellos gewesen. Alles empfand ich als anstrengend und fühlte mich oft unverstanden.
    Wer dies nicht erlebt hat, der kann es wohl nicht verstehen...
    Nun freue ich mich auf meine Zukunft und trage diese Freude hinaus in die Welt. Und siehe da: überall begegne ich unseresgleichen. Sind es wirklich nur 20% oder werden es mehr?
    Ansonsten erfreue ich mich an den 20 Prozent :-)
    Besten Dank.
    Barbara

PSYTSG

Psychotherapie Simon Gautschy

M.Sc. Simon Gautschy

Eidg. anerkannter Psychotherapeut
Fachpsychologe für Psychotherapie FSP

Rathausgasse 17

5000 Aarau

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